Nordnordwest by Sylvain Coher

Nordnordwest by Sylvain Coher

Autor:Sylvain Coher [Coher, Sylvain]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783423430630
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 2016-12-20T23:00:00+00:00


Sie segelten immer weiter aufs Meer hinaus. Brachten hinter sich, was auf sie zukam. Fraßen Wasser und spuckten es hinten wieder aus. Über ihnen zerlegten Kondensstreifen, klar wie Kreidestriche, den Himmel. Diese Schneisen durch das Nichts versprachen weiterhin gutes Wetter, und auch das Barometer stand immer noch auf Schönwetter. Der schwache Wind deutete nicht darauf hin, dass sich das so bald ändern würde. Es war ein außergewöhnlich warmer Herbst. Vögel, von denen sie nur die dicken Bäuche sahen, zogen über sie hinweg.

Lucky steuerte die Slangevar über das Meer. Selbst wenn er nicht am Ruder saß, hielt er ständig nach dem kleinsten Anzeichen eines Problems Ausschau. Der seemännische Instinkt hatte sich von selbst eingestellt. Es war, als hätte er nie etwas anderes getan. Man musste nur seinen Verstand gebrauchen. Vorsichtig sein. Einen kühlen Kopf bewahren. Ein Vorfahr von ihm musste schon vor Jahrhunderten die Meere befahren haben. Allerdings zweifelte er an ihrem Kurs. Wenn sie zu weit nach Westen gerieten, drohten sie Cape Cornwall zu verpassen und sich in der endlosen Weite des Ozeans zu verlieren. Trotzdem zögerte er, einen nördlicheren Kurs einzuschlagen. Er fürchtete, in der Enge des Ärmelkanals könnten sie zurück zur französischen Küste getrieben werden. Das Handbuch warnte vor allen möglichen unberechenbaren Strömungen.

So steuerte Lucky weiterhin auf die sinkende Sonne zu. Verbreitete Optimismus oder gab sich streng, wenn die beiden Jüngeren ungeduldig wurden. Alle drei hatten sonnenverbrannte Gesichter, aber Lucky sah mit seinem Dreitagebart düster wie ein Fregattenkapitän aus. Sein Mund war noch trockener als seine von den Nylonleinen aufgescheuerten Hände. Ständig trimmte er die Segel neu und warf nervöse Blicke aufs Meer und zum Himmel. Mit seinem Verhalten machte er die anderen beiden misstrauisch. Die beiden Jüngeren dösten an Deck oder im Cockpit. Lucky trug schwer an der Rolle des Anführers, aber er hatte keine Wahl. Die Gefahr, die vom Meer ausging, war sehr real, und ihr aller Leben hing davon ab, dass er diese Gefahr abwendete. Der Kleine und das Mädchen waren sauer wegen seiner rätselhaften Stimmungsschwankungen und wegen seines gebrochenen Versprechens. Ihre Sorglosigkeit brachte sie einander näher. Mehrmals steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten. Ihr abschätziges Grinsen brachte Lucky auf hundertachtzig. Mit einem Mal war der Altersunterschied deutlich spürbar. Er hatte das Gefühl, in den letzten Tagen um Jahre gealtert zu sein, und die Vorwürfe der beiden schwebten als zusätzliche Bedrohung über ihm.

Um die Zeit totzuschlagen, begann er, den Motor zu reparieren. Er kramte in der Backskiste und brachte ein paar verrostete Werkzeuge und einen öligen Lappen zum Vorschein, in den ein Zündkerzenschlüssel eingewickelt war. Er schob einen Schraubenzieher in den Schlüssel, zog den Zündstecker ab und musste all seine Kraft aufbringen, um die Zündkerze herauszudrehen. Er inspizierte das Gewinde, roch daran und trocknete es mit dem schmierigen Lappen. Dann kratzte er mit dem Messer an den funktionsuntüchtigen Elektroden herum, bis sie blank waren. Bog sie mit dem Fingernagel auseinander. Blies in den Benzinschlauch, um ihn frei zu bekommen. Dann schraubte er die Zündkerze wieder in die Fassung. Steckte den Zündstecker auf. Klappte die Abdeckung zu, ließ den Verschluss zuschnappen, wischte sich die öligen Hände an dem Lappen ab.



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